Kartenspiele

Date April 15, 2005 | Map

Engländer haben zweifellos viele Marotten. Von den meisten hat fast jeder schon einmal gehört oder gelesen. Eine war mir neu: Die Scheckkarten-Marotte. Wer denkt, in Deutschland sei es schlimm, mit einer Bankkarte, einer Kreditkarte, der Bahncard, der Gesundheitskarte, der Handelsketten-Bonuskarte, der Frequent-Flyer-Karte, dem Jugendherbergsausweis und der Mitgliedskarte seines aus drei Mitgliedern bestehenden Hallenhalma-Klubs herumzurennen, sollte nicht nach England auswandern. Schon am ersten Tag bekam ich zwei Karten, und diese Tendenz setzte sich in den folgenden Tagen erst einmal fort. Jetzt habe ich unter anderem eine Bibliothekskarte, eine Security Card für mein Büro, eine Top-up-Karte für’s Mobilfon, eine Security Card für meine Wohnung, eine Oyster Card für die Tube, noch eine Wochenkarte für den Bus, zwei Kopierkarten für unterschiedliche Kopierer, diverse Voucher Cards wie die Subway-Sandwich-Card, die Tesco-Card und bald noch Benji’s Sandwich Card, eine Kontodetail-Card und eine Telefonkarte, und dabei fehlen noch die Bankkarten, die National Insurance Card, die NHS- (Gesundheits-) Karte und die Hallenhalma-Clubkarte.

Bei all den Karten merkt man, dass die Briten eine Affinität für technische Spielereien haben. Zugegeben, das kann man auch an den Kamera-Wäldern am Rande der Congestion Charge Zone sehen, aber bei den Karten fällt es irgendwie auf. Alleine ihre Funktionalität: Es gibt nicht nur die typischen Magnetstreifen- oder Chipkarten, die man irgendwo durchziehen oder reinstecken muss, sondern auch Barcode-Karten, die eingescannt werden müssen, oder die Smartcards der neuen Generation wie die Oyster Card von London Transport: In die Nähe einer Lesefläche gehalten, wird die Elektronik in der Karte ausgelesen und neu programmiert. Völlig berührungsfrei, die Karte kann sogar im Portemonnaie bleiben.

Und was die Briten mit den Karten alles regeln: Karten als Zimmerschlüssel kennt man ja aus besseren Hotels. Karten als Gebäudeschlüssel sind in England mehr als üblich. Meistens deaktivieren die Karten für ein paar Sekunden einen superstarken Elektromagneten, dem man mit Körperkraft ansonsten nahezu gar nicht entgegenwirken könnte. Naja, außer der Eingangstür zu meinem Bürogebäude, deren Magneten ich schon häufiger mit einem kräftigen Zug überwand, weil ich zu blöd war, den Ausgangsknopf richtig zu drücken. Aber dafür wurde in dem Gebäude auch ein paar Tage später eingebrochen. Die Diebe kamen allerdings nicht durch die Tür, sondern zerschlugen ein Fenster.

Meine Security Card für meinen Arbeitsort hat dabei eine zusätzliche Funktion: Zunächst kommt man ohne sie nur auf Gnade unseres hübschen, jungen, aber strengen finnischen Rezeptionsmädels überhaupt in das Gebäude. Die richtige Security-Funktion offenbart sich aber im Fahrstuhl: Nur nach Durchziehen durch den Leser sind die Bedienelemente der Fahrstuhlkabine aktiv. So weit so gut. Nur zählt auch der „Tür öffnen“-Knopf zu den Bedienelementen. Von außen kann man die Fahrstuhltür per Rufknopf einfach öffnen, steht man aber drin und hat sich die Tür schon geschlossen, dann Gnade demjenigen, der keine Karte oder auch nur seine Karte vergessen hat! Das Gebäude ist nämlich so sicher, dass man ohne Karte keinesfalls mehr aus dem Fahrstuhl herauskommt! Natürlich wissen das alle Kollegen, und ich kann mir schon vorstellen, wie die strenge, aber lustige Rezeptionistin alle Mitarbeiter per Treppe an die Rezeption zu einem Halbkreis um die Fahrstuhltür ruft, um dem ersten Fahrstuhlopfer einen angemessenen Empfang zu bereiten – selbstverständlich erst nach einer angemessenen Frist, um der Peinlichkeit des Opfers auch entsprechend zu huldigen.

Meine Security-Card konnte ich schon am dritten Arbeitstag nicht finden. Ich fahre heute noch nicht gerne Fahrstuhl. In keiner Jackentasche, auch nicht in der Aktentasche verbarg sie sich. Das Portemonnaie hatte ich schon zigmal entleert. Meinem Chef erzählte ich lieber erst einmal nicht davon, und schon gar nicht der Rezeptionistin! Bestimmt würde sie ansonsten gleich ihre Peitsche auspacken… Was bringen einem Tausende von Karten, wenn die, die man gerade braucht, immer verschwunden ist? Warum wurde noch nicht die universelle programmierbare Master-Karte erschaffen, die alle Funktionen in sich vereinen kann? Oder jetzt, wo die Oyster Card kartenschluckende Lesegeräte überflüssig macht: Wo bleibt der auf dem Handrücken unter der Haut implantierbare intelligente Chip, der sämtliche Karten in sich vereint, samt Personalausweis (ach nein, den kennt man ja hier auf der Insel gar nicht) und Hallenhalma-Klubcarte? Wenn es so etwas einmal geben wird, dann bestimmt zuerst in England. Aber bis dahin müssen wir signifikante Teile unserer Zeit weiterhin mit nutzlosem Suchen nach eigentlich überflüssigen Karten verbringen. Meine Security Card fand ich letztendlich in der Pappschachtel von Dallmann’s Salbei-Bonbons, von denen ich immer eine Packung in der Jackentasche trage. Zum Geburtstag wünsche ich mir ein Scheckkarten-Hüllenheft mit mindestens 20 Fächern.

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